Gastbeitrag: Kundenmehrwert durch digitale Self-Services

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Von Dr. Marc Surminski, Zeitschrift für Versicherungswesen

Es ist ein Paradigmenwechsel: Mittlerweile möchte eine große Mehrheit der Kunden ihre Anliegen lieber selbst erledigen, anstatt dafür einen Kundenservice zu kontaktieren. Mit der Digitalisierung sind immer mehr Menschen daran gewöhnt, alle möglichen Dinge selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht mit langwierigen und oft nervtötenden traditionellen Service-Routinen herumzuschlagen.

Die Entwicklung zum digitalen Self-Service ist auch längst in der Finanzwelt zu beobachten. Beim Online Banking oder beim Online-Investment sind die Kunden mittlerweile an schnelle, intuitive und hochverfügbare Services gewöhnt. In der deutschen Versicherungswirtschaft ist die Entwicklung dagegen deutlich verhaltener: Wie in anderen Bereichen ist die Branche auch im Customer Service bislang kein Vorreiter der Digitalisierung. Sie bietet heute eine sehr bunte Palette von Service-Levels. Neben einigen digitalen Vorreitern gibt es auch viele Versicherer, die eher auf konventionellen Wegen mit den Kunden interagieren und kaum Self-Service-Optionen anbieten.

In jüngster Vergangenheit hat sich allerdings gezeigt, dass der Service vieler Versicherer vollkommen ungenügend sein kann: Bei der Schadenbearbeitung hatten sich 2024 mancherorts in Massensparten wie der Autoversicherung oder der Krankenversicherung aus verschiedenen Gründen zum Teil gewaltige Rückstände aufgebaut, was zu erheblichen Frustrationen bei Kunden und Vermittlern führte. Diese Erfahrungen haben gleichwohl nicht zu großen Abwanderungsbewegungen der Kunden geführt – weil der Service bei der Konkurrenz auch nicht viel besser ist, darf man schlussfolgern.

Geänderte Kundenansprüche – Gefahr für die Versicherer

Die Gefahr für die Versicherer: Falls ein Newcomer auf den Markt käme, der digitale Self-Services auf einem Niveau anböte, wie es die Kunden mittlerweile von anderen Branchen gewöhnt sind, hätte er einen gewaltigen Vorsprung vor den traditionellen Anbietern. Bislang ist es zu einer solchen Disruption von außen bekanntlich nicht gekommen. Aber wer sich als traditioneller Versicherer gegenüber dem Wettbewerb profilieren will, kann sich im Ausbau der digitalen Self-Services einen erheblichen Marktvorteil verschaffen. Außerdem wird es angesichts des Fachkräftemangels in Zukunft immer schwieriger werden, mit konventionellen Mitteln und dem Einsatz von Fachpersonal ein vernünftiges Servicelevel aufrechtzuerhalten. Von den Kosten einmal ganz zu schweigen.

Es ist also an der Zeit für die deutschen Versicherer, beim Thema Self-Service aufzuholen. Allerdings hat die Branche momentan ohnehin mit der digitalen Transformation eine gewaltige Last abzuarbeiten. Und mancherorts gibt es Schwierigkeiten, neue Wege zu gehen, weil die eigene IT einen modernen Umgang mit den Service-Anliegen der Kunden schlicht nicht hergibt.

„Es ist an der Zeit für die deutschen Versicherer, beim Thema Self-Service aufzuholen“

Trotz aller technologischen Fortschritte der letzten Zeit ist die Branche in zentralen Punkten – etwa bei der Umsetzung von Omnichannel-Strategien – noch deutlich zurück. Es ist wichtig, diese Besonderheiten bei der Implementierung innovativer Technologien zu beachten.

Omnichannel ist immer noch ein Problem

Die Versicherer tun sich seit Jahren schwer damit, angesichts ihrer vielfältigen traditionellen Zugänge zum Kunden das Thema Omnichannel wirklich umzusetzen. Hier müssen sie Lösungen zu schaffen, bei denen neue digitale Self-Service-Portale ebenso ihren Platz haben wie das persönliche Gespräch eines Sachbearbeiters oder Vermittlers mit dem Kunden.

Dazu kommt: Anders als etwa der Bank-Bereich ist die Versicherungswirtschaft eine klassische Low-Involvement-Branche. Sie hat nun einmal nur wenige Kontaktpunkte zu ihren Kunden. Und umso pflegeintensiver und teurer ist es, hierfür über die traditionellen Wege einen vernünftigen Service anzubieten.

Adressänderungen, die Verlängerung eines Vertrags oder ein Bestellvorgang – technologisch ist es längst kein großes Problem mehr, solch elementaren Prozesse über digitale Touchpoints wie Website oder App abzubilden. Aber veraltete Systeme behindern bei vielen Versicherern die Bereitstellung umfassender Self-Services.

Erfolg mit einer Strategie der kleinen Schritte – aber es wird ein langer Weg

Die Frage, die viele Versicherer umtreibt: Geht es nur mit IT-Mammutprojekten, die zusätzlich zu den bestehenden Aufgaben gestemmt werden müssen? Oder kann es statt radikaler Erneuerungen eine Veränderung in kleinen Schritten mit einem stufenweisen Ausbau bestehender Systeme gehen? Aus Sicht der transformationsgeplagten Praktiker in vielen Versicherungsunternehmen dürften hier oft Mischstrategien sinnvoller sein, bei denen Legacy-Systeme teilweise erhalten bleiben. Statt Revolution also Evolution unter Nutzung der vorhandenen Mittel.

„Revolution statt Evolution unter Nutzung der vorhandenen Mittel“

Eine effektive Lösung kann etwa die Entwicklung spezifischer Portale für verschiedene Nutzergruppen sein, die auf einer einheitlichen Datenbasis fußen. Über diese können dann konsistente Informationen und Services für Endkunden, Makler und Partner abgebildet werden, ohne die Kernsysteme komplett erneuern zu müssen – nach dem Motto „Portal-over-Legacy“. Als punktuelle Lösungen für diese Strategie der kleinen Schritte sind etwa die automatisierte Schadenabwicklung und digitale Antragsstrecken denkbar, aber auch Daten- und Vertragsänderungen oder KI-basierte Empfehlungen und Analysen.

Aber man sollte sich in der Versicherungswirtschaft nichts vormachen: Die Nutzung digitaler Self-Services wird zwar langfristig zunehmen, die Umsetzung wird jedoch eher langsamer erfolgen als in anderen Branchen. Künftig wird dabei auch KI eine zentrale Rolle spielen, um die Prozesse zu automatisieren und zu optimieren. Dabei gilt: Versicherer sollten ihre Kunden im Blick haben und sich deren Bedürfnissen und deren Geschwindigkeit anpassen. Bisher lief es beim Service oft eher umgekehrt. Wer heute damit beginnt, seine Infrastruktur ohne radikale Umwälzungen schrittweise ausbauen, ist morgen beim zentralen Bereich Kundenservice im Vorteil.

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